Da ich die vergangenen Wochen in Äthiopiens Unruhegebiet bei Gondar, Bahir Dar und Addis Abeba unterwegs war, hier ein Schlaglicht auf Ursachen, aktuelle Lage und weitere Entwicklung des Konflikts.
Wut auf „chinesisches Entwicklungsmodell“
Der Konflikt findet zwischen Regierung und der Bevölkerung Mittel-Nord-Äthiopiens vor allem aus drei Gründen statt. Zum einen fühlen sich die dort lebenden Oromo und Amhara, als größte und zweitgrößte Bevölkerungsgruppen des Landes, von den Machtstrukturen der herrschenden Einheitspartei ausgegrenzt. Diese „Revolutionäre Front der Äthiopischen Völker“ wird von den Tigray dominiert, die aber nur sechs Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Ein weiterer Konflikttreiber: Die Regierung vergibt riesige Landflächen an ausländische Agrarunternehmen zur Devisenbeschaffung. Landbesitzer in Äthiopien ist immer noch der Staat; ein Relikt aus den Zeiten des sozialistischen Derg-Regimes bis 1991. Das macht die Vertreibung der äthiopischen Kleinbauern einfach und schürt deren immense Wut auf dieses „chinesische Entwicklungsmodell“. Hinzu kommt ein genereller Frust der Äthiopier mit Blick auf ihre wirtschaftliche Situation. So verdient ein Arbeiter im boomenden Bausektor höchstens 60 Birr am Tag; zwei Euro und vierzig Cent. Das reicht für das tägliche Essen einer Kleinfamilie; für mehr aber nicht.
Spezielle Sicherheitsstrategie
Über die Hauptzentren der Unruhen, die Großstädte Gondar und Bahir Dar nördlich der Hauptstadt Addis Abeba, hat das Militär ein feinmaschiges Netz aus leicht bewaffneten Militärposten gelegt. Das heißt, an fast jeder Straßenkreuzung stehen meist vier, mit AK-47 ausgerüstete, Soldaten. Schweres Gerät oder die MG-Pick-ups der Streitkräfte sucht man aber vergebens. Selbst auf zentralen Schauplätzen der Unruhen vom Sommer, wie der Piazza von Gondar, zeigt die Staatsmacht keine martialische Waffenschau.
Mit der umfassenden Militärpräsenz will Äthiopiens Regierung die rebellierende Bevölkerung, nachdrücklich entmutigen weiter aufzubegehren. Dabei soll der Verzicht auf schwere Waffen gleichzeitig wohl deeskalierend wirken. Ergänzt werden diese Maßnahmen durch eine totale Internetsperre und Fahrzeugkontrollen an den Hauptausfallstraßen. Die dort vorgenommenen Durchsuchungen nach Waffen unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Qualität allerdings erheblich. Teilweise schütteln die Soldaten nur lustlos die Rucksäcke der Reisenden durch. Bei anderen Kontrollpunkten werden selbst Sandwichbrötchen nach Rasierklingen durchknetet. Dabei freuen sich die Äthiopier wenn Ausländer, die so genannten „Faranji“, mitfahren; garantiert dies doch eine höflichere Behandlung durch die Sicherheitskräfte.
Weitere Eskalation steht an
Diese scheinen auf den ersten Blick noch Herr der Lage zu sein. Öffentliche Proteste werden im Keim erstickt und Gegenzüge der Amhara-Oromo-Opposition verpuffen. Diese wollte vor einigen Tagen ein Zeichen setzen und das Wirtschaftsleben in Gondar lahmlegen. Die Besitzer von Läden, Cafés und Co. sollten einen Tag darauf verzichten, ihre Geschäfte zu öffnen. Doch die Protestaktion floppte; nur wenige machten mit. Allerdings sehen alle Äthiopier, mit denen der Autor gesprochen hat, die jetzige Lage als eine Ruhe vor dem Sturm. Die einhellige Meinung vom Taxifahrer bis zum Staatsanwalt: In zwei Monaten werden die Auseinandersetzungen eine neue Qualität erreichen. Dann ist die Erntezeit zu Ende und die Massen von Amhara und Oromo Kleinbauern ließen sich umfassender für den Kampf gegen die verhasste Regierung mobilisieren.